Vorwärts und Vergessen?
Jürgen Elsässer und Sahra Wagenknecht
Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte, sagt man, und dies stimmt besonders,
wenn die zwei zwei "prominente Gegner der Wiedervereinigung" sind. Bei den beiden
handelt es sich um die allseits bekannte Sahra Wagenknecht und Jürgen Elsässer.
Sie, ihres Zeichens Kommunistische Plattformerin der PDS, und er, Redakteur der
konkret. Die Herrschaften haben ihre Unstimmigkeiten zu Papier gebracht, und deswegen
ist der erfreute Dritte der Leser eines, wie ich finde, rundum guten Buches. Ein
wenig Neutralität wäre mir wohl angeraten für eine halbwegs objektive Buchbesprechung,
was mir als überzeugter Wagenknecht-Fan nicht allzu leicht fällt. (Sie sieht auch
besser aus als Jürgen...) Also worum geht's in der Streitschrift - der Untertitel
verrät es: Ein Streit um Marx, Lenin, Ulbricht und die verzweifelte Aktualität des
Kommunismus, und um viel viel mehr. So erfährt man nebenbei 'ne ganze Menge über
die die DDR, SED, PDS, die 68er-Bewegung, die Sowjetunion, Ökonomie, Sozialismus
(keine Angst - alles und jeder bekommt sein Fett weg) und nicht zu vergessen, warum
Elsässer ein "Schnitzler immer noch lieber ist als ein Brie". Wagenknecht legt eine
knallharte Analyse des Hoch und Nieder der DDR-Ökonomie hin und versucht ständig,
Elsässer seine 68er-Flausen auszutreiben: Denn "abstrakt gegen den Staat zu schimpfen,
bringt gar nichts." Basta! Was nicht heißen soll, dass ein Elsässer in seinen Beiträgen
weniger ernst zu nehmen ist - ganz im Gegenteil. Es entgeht einem nicht, dass sie
und er von dem, worum sie sich fetzen, doch einiges verstehen. Argumente werden
nicht wie in einem "normalen" Buch einfach aufgestellt und müssen so hingenommen
werden, sondern werden hin und her geworfen, ein Prozess, der zu der Essenz der
Dinge findet, praktisch liest man zwei Bücher gleichzeitig. Das eine von einer klar
und sachlich argumentierenden Sahra Wagenknecht und das andere von einem zappligen,
anarchistisch angehauchten Jürgen Elsässer. Und ich sag euch: Es funktioniert! Hier
streiten sich zwei Experten um Dinge, um die sich's dann auch lohnt zu zanken, nicht
wie in anderen Schriften, wo sich irgenwelche Schlauköpfe selbige einhauen bei der
Frage, ob DDR und Oktober-Revolution wohl nicht doch ein "Irrtum der Geschichte"
gewesen sind. Von beiden kommt hier ganz klar die Absage an die großdeutsche Feierstunde
am 3.10. Eine Position, die ja eigentlich auch eine Ausgangsposition in der fortschrittlichen
Linken sein sollte. Isse aber nich... Wie dem auch sei, Geschichte wird hier in
diesem Buch von der einzig richtigen Seite beäugt - aus der wissenschaftlichen -
und nicht wie nur zu oft über Kimme und Korn. Aber es ist auch ein Buch, das obwohl
Jahrgang '96, jedenfalls mir eine Menge auch aktueller Fragen beantwortet, dabei
zugegeben auch doppelt so viele aufwirft, aber das kennt man ja. Gerade jungen Leser
(der 23jährige spricht!) ist dieses Buch sehr zu empfehlen. Weil es direkt und leicht
verdaulich daher kommt, was sich ja von gewissen Klassikern schwerlicher behaupten
lässt. Sicher, die 140 Seiten sind nicht gerade revolutionäre Pflichtlektüre, und
doch trugen vielerorts die klaren Analysen und Positionen einer Sahra Wagenknecht,
die fesche und direkte Art eines Jürgen Elsässer mehr zu meinem Verständnis sozialistischer
Ökonomie und revolutionärer Dialektik bei als dicke Wälzer und unzählige Schlammschlachten
mit irgendwelchen selbstgeadelten Hobbytheoretikern.
Laut Vorwort ist "ihr Streit ein Startzeichen für die Rekonstruktion einer kommunistischen
Perspektive". Dem stimme ich zu und, um noch mal auf die Aussgangsfrage des Buches
zu kommen, natürlich sind sich hier beide (und das kommt nicht oft vor) einig: Beim
"Vorwärts" gehen wäre es fatal, wenn nicht gehirnamputiert, das "nicht vergessen"
zu vergessen! Ringo
Vorwärts und Vergessen?:
Ein Streit um Marx, Lenin, Ulbricht und die verzweifelte Aktualität des Kommunismus
von Jürgen Elsässer und Sahra Wagenknecht
KVV konkret, Hamburg 1996
ISBN 3-930786-06-0
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