Was war die DDR wert?
Siegfried Wenzel
Pleite war sie nie, aber im Weg!
Bestimmt werden sich manche fragen, warum die Annexion der DDR immer wieder Thema
auf unseren Treffen, bei Aktionen, in der Fanfare ist. Bestimmt meinen manche, vor
dem "Siegergericht der neuen Weltordnung" steht nur ein Land oder 40 Jahre deutsche
Geschichte, vielleicht meinen manche sogar, daß es besser ist, ROM - gleich dem
Realsozialismus abgerissen und zerstört zu sehen, den Buchdeckel zu schließen, um
dann was 100% Fehlerfreies, Schöneres, Größeres, ganz anderes, nun endlich von allem
"Befreitem" wieder aufzubauen. (Stichwort Nero - Wahnsinn ist unsterblich). Bestimmt
erweckt der Lauf der Dinge aber auch bei vielen den Anschein, wir reden nur immer
wieder von etwas, was leider Gottes nun mal passiert, aber nun auch endlich abgehakt
sein sollte. Weit gefehlt! Denn die Beseitigung des ersten deutschen sozialistischen
Staates verschwindet unter einem solchen unübersehbaren Netzwerk aus Lügen und Falschaussagen,
daß die Gerichtsverhandlung noch lange, noch sehr lange nicht geschlossen sein wird.
Vor Gericht steht hier die gesamte Linke! Ob sie es nun will/merkt oder nicht, vor
dem Gericht steht jede Alternative, zum Kapitalismus die es gab oder geben wird.
Deswegen ist es im Weg, das Gespenst DDR, deswegen sind wir im Weg, ein Hindernis
auf der Talfahrt zurück zu neuen Märkten, zur Ausbeutung in Höchstform, ohne Rücksicht
auf Verluste mit dem Krieg im Werkzeugkasten. Die Hohen Bundesrichter und Geschichtsverdreher
wollen einen Präzedenzfall, um ein für alle Mal den Sozialismus zu den Akten legen
zu können, um ein für alle Mal jedem einzuhämmern: Gott ist die Marktwirtschaft,
Gott ist der Kapitalismus und neben ihm wird es keinen anderen geben.
Also Götter sind nicht jedermanns Ding und Kapitalismus ist scheiße, soviel steht
fest. Deswegen können uns die hohen Bundesrichter und Geschichtsverdreher ohnehin
mal am XXX... Aber was war die DDR denn nun wert, und wo ist dieser Wert geblieben?
Zum Glück ist im Verlag Das Neue Berlin ein Buch erschienen, das praktischerweise
genauso heißt: Was war die DDR wert? Kleines Taschenbuch und unscheinbar, ganz im
Gegensatz zu seinem Inhalt. Denn schon alleine die nackten Zahlen und Fakten auf
den ersten 100 Seiten bringen locker das Luftschloß von der großen DDR-Pleite zum
Einsturz. Seite für Seite werden alle Schlagwörter der "neuen großdeutschen Geschichtschreibung"
entzaubert.
Zum Beispiel die ach so ungeheuer hohen Schulden der DDR, ganze 123 Mrd. DM. Und
die Verschuldung der BRD zum Zeitpunkt der Einheit (und die ist bis jetzt wohl beträchtlich
gewachsen)? Na, bei 900 Mrd. hören wir doch lieber auf zu zählen, wie? Also, da
haben wir uns aber verdammt verschuldete Leute für die Einheit ausgesucht. Aber
teilen macht Spaß, und deswegen trägt jeder Bürger der annektierten DDR mind. 15000
DM Schulden der fetten reichen BRD ab, na, das ist doch was! Lieber für jeden 15000
DM Staatsschulden als gar nischt ausm Westen. Stop! Ich hatte da ja dreisterweise
die 100 DM Ramschprämie - sorry, Begrüßungsgeld - vergessen. Gut, nur noch mind.
14900 DM WESTSchulden für jeden Ossi, ja, soviel Zeit muß sein.
Oder nehmen wir unsere "stahlharte" DM, die ist natürlich viel, viel mehr wert als
die olle Ostmark, oder auch nicht! Denn auch hier setzt Wenzel einen Strich unter
den bundesdeutschen Zahlensalat. Ein Blick auf die damaligen staatlichen Subventionen
(und das waren ne ganze Menge, z.B. konstant niedrige Preise für Nahrungsmittel
oder die im Gegensatz zu heute lächerlichen Preise für die öffentlichen Verkehrsmittel
oder Mietwohnungen usw.) zeigt, daß man schlicht und ergreifend fürs Ostgeld mehr
kaufen konnte. So ist im Buch zu erfahren, daß die Mark verrechnet mit den Staatssubventionen
ungefähr 1,07 DM wert war. Interessant! Natürlich triff das nicht für die Leute
zu, die sich zum Trotz aller biologischen Lehrsätze von Grundig-Farbfernseher und
VW-Golfs ernähren können.
Aber kommen wir doch nun zum Wesentlichen, wieviel war sie denn nun wert? Man hat
gerechnet und gerechnet. Naja, wenn man's nachrechnet und in unser schlaues Büchlein
schaut, kommt man auf 1 Billion DM! Obwohl Wenzel auch hier unter dem Teppich noch
mehr aufspürt, wie z.B. das Vermögen der NVA (200 Mrd.), das rein "zufällig" bei
allen Rechnungen der Bonner Ultras unter den Tisch fällt. Obwohl wen wundert's,
bei Ex-Bonnern und Neu-Berlinern rutscht ja öfter mal was vom Tisch und ins schwarze
Köfferlein. Aber bleiben wir bei der Billion. Stolzes Hochzeitsgeschenk für den
Heiratsschwindler, alle Achtung!
Mit diesem gigantischen Raub kann sich die Bundesrepublik Deutschland wohl ins Guinnessbuch
der Superverbrecher eintragen lassen. Richtig einschätzen läßt sich dieser Wert
aber erst, wenn man sich Wenzel's Erläuterungen zu den Bedingungen anschaut, unter
denen dieses kleine Land von Anfang an zu kämpfen hatte. Überhaupt spielen Ausgangsbedingungen
eine Hauptrolle in der Analyse der DDR-Wirtschaft. Denn anders als in der BRD mit
ihrem "Nachkriegswirtschaftswunder", das alles andere als wunderlich war, zahlte
die DDR 98% der gesamten Kriegsreparationen Deutschlands. Diese Zahlungen erfolgten
z.B. in Form der Demontage von Industrieanlagen und Gleiskörpern. Das Verhältnis
dieser Demontage zwischen DDR und BRD beträgt 10:1! Laut Wenzel verblieb nach der
Demontage in der westlichen Besatzungszone der gesamte Industriestock, der im Vergleich
mit 1936 sogar noch um 11% gewachsen war. Das zum Thema Kriegsgewinner. Von diesen
Eingriffen, gerade auch in die laufende Produktion, erholte sich die DDR-Wirtschaft
nie wirklich. Rechnerisch kommt Wenzel auf 728 Mrd. DM Reparationsschulden der BRD
an die DDR. Also wer hat hier eigentlich nun bei wem Schulden?! Während die DDR
an all dem zu knabbern hatte, bekam der Adenauer-Staat via Luftbrücke den US-Zucker
in den Arsch geblasen. Der gute alte Marshall(aufputsch)plan, aus humanitären Beweggründen?
Wohl doch mehr taktisch, die BRD mußte stark gemacht werden gegen den sozialistischen
Nachbarn.
Und diesem Nachbarn wurde es von Drüben vom ersten Tage an so schwer wie nur eben
möglich gemacht. Das und viele andere Fakten aus Wenzels kleinem Taschenbuch geben
freie Sicht auf diese außerordentlich ungünstigen Ausgangsbedingungen, die als eine
Hauptursache für das Zurückbleiben der DDR-Wirtschaft zu werten sind. Das Buch läßt
in seiner Argumentation keine Wünsche offen, jede Analyse und Schlußfolgerung wird
genau begründet und mit einer erstaunlichen Vielzahl von Quellen belegt, die sich
in einer nicht enden wollenden Liste am Ende jedes Kapitels finden.
Doch zurück zur DDR (Zurück in die Zukunft!?). Trotz all dieser widrigen Verhältnisse,
trotz der Eingriffe in das Industrieaufkommen des DDR-Gebietes, der Eingriffe in
die laufende Produktion (50%!!!), oder z.B. der Abwanderung von 2 Mio. bestens ausgebildeten
(in der DDR ausgebildeten) Facharbeiter, trotz der Neuformierung ganzer Wirtschaftszweige,
erzwungen durch die Politik Adenauers und das wieder und wieder unumgängliche Improvisieren
bei kurzfristigen Notlösungen, und vieles vieles mehr, trotz alledem - in 5 Jahren
auferstanden aus Ruinen (das mußte jetzt sein!). In 5 Jahren schaffte es die DDR,
auf ihrem Gebiet, die Zerstörung der Wirtschaft durch einen Weltkrieg wett zu machen
(na endlich mal ein richtiges Wirtschaftswunder!) und den Vorkriegsstand der Produktion
zu erreichen. Demgegenüber: Der (Wieder)Aufbau der Wirtschaft auf dem Gebiet der
annektierten DDR nach 1989, sprich nach der Zerstörung der selbigen durch die feindliche
Übernahme, sorry, ich meine natürlich die süße Einheit (würg), ist nach ganzen 12
Jahren nicht im kleinsten Ansatz zu erkennen (warum auch? - er ist ja überhaupt
nicht beabsichtigt), ganz im Gegenteil. Eine der erschreckendsten Schlußfolgerungen,
die Wenzel zieht: 12 Jahre "friedliche Umarmung" vom westdeutschen "Bruder" brachten
der annektierten DDR einen wirtschaftlichen Kahlschlag ein, für den man in Kriegszeiten
x-tausend Tonnen Bomben brauchte. Ja, da wurde ganze Arbeit geleistet.
Wobei wir nun auch bei der zweiten Frage wären, die den Einband des Buches ziert:
Wo ist ihr Wert geblieben? Na, die Machenschaften der Raub & Schuttgesellschaft
(im Volksmund auch Treuhand genannt) müßten ja spätestens nach Hartmanns Realowirtschaftsthriller
DIE LIQUIDATOREN bekannt sein, desweiteren gut nachzulesen in M. Jürgens DIE TREUHÄNDLER.
Was ist denn nun aus 1200000000000 DM geworden? Für alle die es noch nicht wissen
oder bemerkt haben: nichts! Aber halt, noch ne ganze Ecke weniger als nichts, nämlich
hübsche 246 Mrd. MINUS! Hm, irgendwie scheint der Gott der Marktwirtschaft wohl
doch eine Vollniete zu sein. Aus 1,2 Billionen 246 Mrd. Schulden zu machen, also
das läßt schon auf eine besondere Art von Dämlichkeit schließen. Aber getreu der
alten Ritterregel, die da lautet: Keiner kann an einem Stück so blöde sein, war
der Vernichtungsfeldzug der Treuhand wohl vielmehr strategisch, taktisches Kalkül,
nämlich die Eliminierung jeglicher Konkurrenz aus dem Osten, Ausverkauf, Verramschung
von allem, was nicht niet- und nagelfest war, die Verschiebung des gesamten wirtschaftlichen
Potentials der DDR in die gierigen Wurstfinger des westdeutschen Finanzkapitals.
Aber halt, wir wollen mal nicht so dramatisieren hier, immerhin blieben stolze 5%
des Wirtschaftswertes bei den "befreiten" Ossis. Also 95% des Wirtschaftspotentials
gingen in den bundesdeutschen Gierschlund... ganz schön happig, satter Preis für
die paar Bananen und 1000 Folgen GZSZ, oder was hat die Einheit sonst noch gebracht?
Hut ab! Reife Leistung, da können die Mitarbeiter der Treuhand zurecht stolz auf
ihre Arbeit sein. Eine Arbeit, die sich in einem Gezocke und Geschiebe mit dem Eigentum
eines Volkes darstellt, daß jeder Coup eines Al Capone dagegen zum Entenpups mutiert.
Netter Vergleich, da wir gerade von der Mafia reden, keine Frage, die Treuhand sollte
an dieser Stelle ihren berechtigten Platz in den Top-Ten des organisierten Verbrechens
bekommen. Ehre, wem Ehre gebührt.
Zur Frage der Schuld kann man aber auch bei Wenzel nachlesen, daß nicht zuletzt
Mißwirtschaft und Fehleinschätzungen, Machtspielchen und Ignoranz der DDR-Führung
dem Realsozialismus den Garaus machten. Man war sich der Fehler bewußt, aber - und
das ist zu unterstreichen: Man war sich auch der Auswege aus dieser Situation bewußt!
Wenzel führt hier mehrere Berichte über Unterlagen und Untersuchungen an, die lange
vor der Annexion auf dem Tisch des Politbüros lagen. Unterlagen und Untersuchungen,
die klar und ungeschönt die wirtschaftlichen Fehlentscheidung darlegen. Letztlich
hat es die Führung der DDR, aber auch die Führung der SU zu verantworten, daß man
nicht zur rechten Zeit das richtige tat.
Doch wie weiter? Was ist nach der DDR? Was ist mit Sozialismus überhaupt? Ob man
mit Wenzel's Einschätzung der Rolle der Marktwirtschaft in der zukünftigen gesellschaftlichen
Entwicklung mitgeht, ist jedem selbst überlassen. Im Endeffekt ist es eine Frage
der Blickrichtung auf das Potential einer sozialistisch ausgerichteten Gesellschaft.
Man muß sich nur die immensen Probleme, an denen die DDR durch ihre Anfangsbedingungen,
durch Repressionen von außen, durch ihre Verpflichtungen gegenüber ihren Verbündeten,
durch ihre strategische Lage zwischen zwei Weltmächten täglich ausgesetzt war, anschaun
und im Vergleich einen Blick auf ihre Errungenschaften werfen, die sie sich ohne
Aufputschpläne aus Schutt und Trümmern selber erarbeitete - z.B. eine einmalige
soziale Sicherheit, einen Platz unter den ersten 20 der stärksten Industrienationen
der Welt, Spitzenleistungen in Wissenschaft und Technik (schätzungsweise 50% aller
Maschinen und Anlagen weltweit wurden in der DDR produziert), die Wahrung des Friedens
in Europa (mit dem es ja nun auch heute nicht mehr weit her ist), breite Solidarität
mit vielen Entwicklungsländern usw. Dann drängt sich mir doch die Frage auf: Wenn
der Sozialismus schon so gut funktionierte, als er eigentlich verdammt schlecht
funktionierte, wie würde er erst funktionieren, wenn er richtig funktionierte?!
Auch Wenzel stellt fest, daß diese unendlich tiefe Schlucht zwischen Problemen und
Behinderungen auf der einen und die für dieses kleine Land als Spielball der Weltmächte
unglaublichen Leistungen auf der anderen Seite, daß dieser scharfe Kontrast für
eine Marktwirtschaft nicht zu meistern gewesen wäre. Und wenn, dann nur mit erheblichen
sozialen Verwerfungen, sprich Massenarbeitslosigkeit und Armut, einem weitaus schlechteren
Lebensstandard für große Teile der Bevölkerung. In der DDR gab es diese Verwerfungen
nicht (ganz im Gegenteil zu heute)! Ist das nicht auch das wichtigste Ziel einer
vernünftigen Gesellschaft, diesen Verwerfungen täglich entgegenzutreten und sie
effektiv zu verhindern? Sicher! Und deswegen nehme ich doch lieber sozialistische
Experimente als großdeutsche Katastrophen! Mir für meinen Teil hat dieses Buch vor
allem eins gegeben, eine gesunde Sicht auf das Land, das DDR hieß, auf seine Geschichte,
seinen Abriß durch fremde Hand, aber auch durch die eigene. Die geballte Ladung
exzellent recherchierter Fakten und Hintergründe unter Verwendung von Quellen aus
dem gesamten Spektrum politischer Publikationen, die scharf analytisch gezogenen
Schlußfolgerungen, machen dieses Buch zur Pflichtlektüre für all diejenigen, die
wirklich wissen wollen:
WAS WAR DIE DDR WERT - UND WO IST DIESER WERT GEBLIEBEN.
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